Freitag, 22. April 2016

Dornrose: Die Geschichte meiner Großmutter von Jane Yolen

Zum Inhalt:

"Um das ganze Schloss herum wuchs eine Wildrosenhecke mit Dornen so spitz wie Lagerdraht. Höher und höher wuchsen die Dornen. Und niemand fragte nach den schlafenden Menschen im Inneren."

Als Gemma stirbt, muss ihre Familie erkennen, dass sie eigentlich nichts über sie weiß. Die Familie kennt ihren echten Namen nicht, weiß nicht, aus welchem Land sie 1944 in die USA eingewandert ist, weiß nicht einmal, wer der Vater ihrer Tochter war. Rebecca, die jüngste der drei Enkelinnen, beschließt die Wahrheit über ihre Großmutter herauszufinden. Sie reist nach Polen, nach Kulmhof, einem Vernichtungslager der Nazis, und trifft tatsächlich jemanden, der Gemma einmal gekannt hat.

»Gemma, erzähl uns noch einmal die Geschichte«, bettelte Shana, kuschelte sich an ihre Großmutter und atmete den unverwechselbaren Duft aus Zitrone und Talkumpuder ein, den nur Gemma und niemand sonst besaß.
»Welche denn?«, fragte die alte Dame und schnippelte Äpfel in eine Holzschale.
»Du weißt schon«, sagte Shana.
»Ja ... du weißt schon«, stimmte Sylvia mit ein und drängte sich neben ihre Schwester, wo der Zitronen-Talkum-Duft besonders intensiv war.
Die kleine Rebecca in ihrem hohen Kinderstuhl schlug mit dem Löffel gegen ihre Tasse. »Dorndösen. Dorndösen.«
Shana verzog das Gesicht. Sie selbst hatte nie in Baby sprache geplappert, nicht einmal als ganz kleines Mädchen. Immer schon hatte sie vollständige Sätze benutzt; darauf schwor ihre Mutter hoch und heilig.
»Dorndösen.« Gemma lächelte. »Na gut.«
Die Schwestern nickten und traten beide einen Schritt zurück, als würde die Geschichte nur wirken, wenn sie Großmutters Gesicht sahen. Der Duft allein reichte nicht.
»Es war einmal ...«, begann Gemma, und die beiden älteren Mädchen flüsterten die Anfangsworte mit. »... in fernen Zeiten, niemals oder immerdar, doch nie den besten aller Zeiten ... da stand im Wald ein Schloss. Und in dem Schloss lebte ein König, der wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind. >Dein Wort in Gottes Ohr<, sagte die Königin jedes Mal, wenn der König davon sprach. Aber die Jahre vergingen, und ihnen wurde kein Kind geboren.«
»Bohren, bohren, bohren«, echote Rebecca und schlug bei jedem Wort rhythmisch den Löffel gegen die Tasse.
»Sei still!«, riefen Shana und Sylvia im Chor.
Gemma nahm Rebecca den Löffel und die Tasse weg und gab ihr stattdessen ein Stück Apfel. »Doch eines Tages, schließlich und endlich und zur rechten Zeit, ging die Königin zu Bett und gebar ein kleines Mädchen, gekrönt von flammend rotem Haar.« Gemma strich sich über die eigenen Locken, in deren Rot sich weiße Strähnen flochten wie gewundener Stacheldraht. »Das Kind war so schön wie die wilden Heckenrosen, und deshalb nannte es der König ...«
»Prinzessin Dornrose«, seufzten Sylvia und Shana.
»Dornrose«, wiederholte Rebecca, wenn auch weniger deutlich, denn ihr kleiner Mund war voller Apfel.
(Kapitel 1, Quelle Amazon)

Als Rebecca und ihre Schwestern klein waren, bekamen sie immer und immer wieder die Geschichte der Dornrose erzählt. Ein Märchen, das laut ihren Freundinnen kein richtiges Märchen ist, wird es doch ganz anders erzählt als das berühmte Märchen von Dornröschen. In dem Märchen von Gemma gibt es eine böse Fee mit schwarzen Lederstiefeln, silbernen Adlern und jedes Mal, wenn sie die Geschichte erzählt, scheint sie innerlich zu beben. Als Rebecca größer ist und ihre Großmutter im Sterben liegt, eröffnet sie ihrer jüngsten Enkelin, dass sie selbst Dornrose ist. Rebecca wird hellhörig und beginnt zu forschen. Dabei treten ihr immer mehr Rätsel entgegen. Wer war ihre Großmutter wirklich? Warum kam sie 1944 nach Amerika und vor allem, von wo? Ihre Mutter scheint nichts zu wissen und so beginnt Rebecca sich an eine Zeitung zu wenden, wo sie Hilfe bekommt. Schließlich bekommt sie den entscheidenden Hinweis und reist nach Polen, wo sie sich einem ehemaligen Konzentrationslager gegenüber sieht und einem Mann, der ihre Großmutter sehr gut gekannt hatte. Von ihm erfährt sie eine ungeheuerliche Geschichte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Ich hatte das Buch durch Zufall entdeckt und habe es mir wegen des Covers gekauft. Ich mag Geschichten, die einen Funken Wahrheit beinhalten und das schien mir eine solche Geschichte zu sein. Und was soll ich sagen, ich bin nicht enttäuscht worden. Das Buch strotzt vor historischen Hintergründen, es beinhaltet Dramatik und doch ganz viel Herz. Dass in diesem Buch die Thematik des Nationalsozialismus so schonungslos aufgegriffen wird, lässt einem als Leser den Atem anhalten. So erlebt man in den Erinnerungen des alten Mannes mit, wie er Rebeccas Großmutter kennen lernte und in welcher Angst sie alle gelebt hatten. Es wird gut beschrieben, wie in dieser Zeit mit den Juden verfahren wurde und was man mit denen tat, die in einer der vielen Wiederstandsbewegungen gegen die Nazis dabei waren. Dabei werden die Fakten immer wieder von der Geschichte der Dornrose verpackt und nach und nach dämmert dem Leser, was es denn nun mit dieser Geschichte für die Kinder eigentlich auf sich hat. Einerseits ist die Erkenntnis erschreckend. Anderseits fragt man sich dann aber auch, warum sie diese Geschichte wohl schon den kleinen Mädchen erzählt hat. Und vor allem muss man sich fragen, warum Gemma nie selbst über ihre Vergangenheit gesprochen hat, wäre dies doch sicher auch für sie sehr gut gewesen.

Das Buch möchte ich allen empfehlen, die Schicksalsgeschichten und besonders Geschichten mit historischen Hintergrund mögen. Ihr braucht starke Nerven, aber es ist wirklich gut geschrieben, sehr einfühlsam. Es macht Spaß Rebecca auf ihrer Suche zu begleiten und es bleiben durch den flüssigen Schreibstil keine Fragen offen.

Historischer Hintergrund: 5/5
Dramatik: 5/5
Spannung: 5/5
Schreibweise: 5/5
Hintergrund: 5/5

Gesamtwertung: 5/5


  • Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
  • Verlag: Bloomsbury (12. März 2010)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3827053056
  • ISBN-13: 978-3827053053
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: 15 - 17 Jahre
  • Originaltitel: Briar Rose
  • Größe und/oder Gewicht: 13,4 x 2,7 x 21 cm

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